Mut zur Wut

Mut zur Wut – Abhandlung zum Thema Wut

Schon lange habe ich das Bedürfnis, etwas über Wut zu schreiben.
Nachdem ich nun unlängst selbst mit dem Gefühl der Wut wieder in Kontakt gekommen bin, ist es der richtige Zeitpunkt. Nun kann ich auch aus eigener Erfahrung sprechen. Die Erfahrungen aus der therapeutischen Arbeit kommen hinzu.

Wut muss als eine Reaktion auf einen Mangel gesehen werden. Ohne Mangel ist es mir schlicht unmöglich, wütend zu werden. Nun kann ich mich fragen, worin der Mangel besteht. Oft steckt hinter der Wut das Grundbedürfnis, gesehen zu werden. Ich möchte als derjenige oder diejenige, die ich bin, gesehen werden. Wenn wir die Möglichkeit haben, kurz inne zu halten, haben wir oft die Wahl, entweder die Wut auszuleben, oder uns dem Mangel zu stellen. Oft ist es ein guter Rat, sich den Mangel anzuschauen. Deshalb sind wir noch keine Softies. Wir zeigen uns verletzbar. Es muss Schluss sein mit dem Mythos, dass Verletzlichkeit schwach macht. Das Gegenteil ist der Fall. Verletzlichkeit macht letztlich stark.
Die zweite Variante, die Wut auszuleben, ist eine mutige und auch mit unter gefährliche Entscheidung. Warum?
Zum einen müssen wir uns darüber bewusst sein, das wir alle ständig projizieren. D.h. wir können nicht immer sicher sein, uns mit der Wut an die richtige Adresse zu wenden.
Wenn wir uns als Mensch nicht gesehen fühlen, rutschen wir leicht in unser
Kindheits – Ich zurück. Somit passiert eine Verschiebung in der Zeit und in der Person. Vergangenheit wird zur Gegenwart und das Gegenüber zu unseren Eltern.
Zum anderen ist da die Gesellschaft, für die Wut ein geächtetes Gefühl ist. Wut auszudrücken, ist nicht opportun oder angemessen. Sind wir wütend, riskieren wir nicht selten die Zugehörigkeit. Zugehörigkeit zur Familie, zur Firma oder zu einer Gruppe. Sich zugehörig zu fühlen, ist ebenfalls ein elementares Grundbedürfnis des Menschen. Das Risiko, die Zugehörigkeit zu verlieren, stellt deswegen eine hohe Hürde dar. Die meisten von uns haben als Kind erfahren, dass gelebte Wut eine Situation häufig verschlimmert. Welche Eltern können einen Wutausbruch ihres Kindes ertragen, ohne die Beziehung in Frage zu stellen??? „Jetzt gehst du auf dein Zimmer!“
Diese schmerzhaften Erfahrungen mit Wut haben zur Folge, dass viele von uns Angst haben vor der eigenen Wut, vor Kontrollverlust.

Ich meine jedoch, dass Wut ein Gefühl ist, wie jedes andere Gefühl auch.
Durch das eben Beschriebene braucht es Mut. Mut zur Wut, um das Gefühl wie ein Vulkan ausbrechen zu lassen. Dennoch – es erlaubt uns, authentisch zu sein und unsere Kraft zu spüren.
Schmerzhaft ist nicht die Zeit, in der der Vulkanausbruch passiert, sondern die Zeit davor, in der wir ihn anfangs verhindern wollen und um die innere Erlaubnis ringen.
Wenn wir erfahren, dass das Gegenüber die Wut aushalten kann, erleben wir die Beziehung als nährend und belastbar. Die Botschaft lautet: Ich werde auch mit meiner Wut gesehen und angenommen.

Ob sie angenommen wird, richtet sich auch nach der gewaltfreien bzw. gewaltvollen Botschaft in dem Wutausbruch. Wenn wir mit Du-Sätzen urteilen und anklagen, ist es eher unwahrscheinlich, dass sie angenommen wird. Sprechen wir hingegen von uns in Ich-Sätzen „ich fühle mich ….“ gibt es größere Chancen, dass die Wut angenommen wird.

In der therapeutischen Arbeit bedarf es einer behutsamen Annäherung an die Wut. Es hängt vom einzelnen ab, ob es besser ist, mit dem Mangel oder der Wut anzufangen.
Was haben wir für Erfahrungen gemacht, welche Verstrickungen gibt es zu der Herkunft unserer Familie, und welchen Charakter haben wir gebildet?
Die Antwort dieser Fragen erleichtert die Wahl.
Da bei dem Thema Wut so viele Grundbedürfnisse eine Rolle spielen, ist es eng verbunden mit der Selbstwertproblematik. Ich spreche hier vom Bedürfnis, gesehen zu werden und zugehörig zu sein. Werden unsere Grundbedürfnisse nicht erfüllt, fühlen wir uns wertlos. In der Therapie wäre dann das Ziel, die  Nicht-Erfüllung der Grundbedürfnisse zu fühlen. Z.B. Was macht uns das aus, nicht gesehen zu werden?

Einen weiteren Zusammenhang gibt es zwischen Wut und Geburt.
War unsere Geburt so, dass wir uns durch den Geburtskanal unserer Mutter aktiv durchkämpfen mussten und es hierbei zur Atemnot kam, ist Wut und Kampf mit Lebensgefahr verbunden. Wenn  wir Mangel an Sauerstoff spüren, kämpfen wir umso stärker um die Befreiung. Gerade deshalb kann es dann
zum Sauerstoffmangel kommen, weil der Kampf enorm Sauerstoff verbraucht. Ein Teufelskreis, der z.B. den Parasympatikus, dem sogenannten Ruhenerv in unserem vegetativen Nervensystem, in unserem Leben dominieren lässt. Somit ist es nicht übertrieben, vom Kampf um Leben und Tod zu sprechen. Dies macht den Zugang zur Wut schwierig bis unmöglich. Aber auch dies kann mit dem Wiedererleben der lebensbedrohenden Erfahrung  geändert werden.

Die Angst vor unseren eigenen Wut führt meines Erachtens zu 2 Umwegen in der therapeutischen Praxis.

Den 1. Umweg um die Wut nenne ich den Kognitiv-Analytischen. Wir wissen alles, was uns wütend gemacht hat und noch macht, aber wir suchen Erleichterung in einer „kopfigen Arbeit“, statt zu fühlen.

Den 2. Umweg nenne ich den Esoterischen. Danach zeigt das Gefühl der Wut  unsere Verblendung und muss schlichtweg transformiert werden.
In meiner Praxis hat die Wut wie alle Gefühle ihren Platz. Wir brauchen dafür
kein Gegenüber, bzw. imaginieren unser Gegenüber und geben der Wut mittels
Kissen oder Tennisschläger, der auf die Couch geschlagen wird, Ausdruck.

Ich wünsche mir einen unspektakulären, gewöhnlichen Umgang mit Wut in der Therapie und im Leben. Mut zur Wut!

Bad Krozingen, Stephan Klein

 Printversion: Mut zur Wut – Abhandlung zum Thema Wut